rebellische Hingabe

Wenn wir in irgendeiner Gruppe Verantwortung tragen – sei es ein Verein, eine Gemeinde oder eine andere beliebige Gruppe von Menschen – wurden wir vielleicht schon mit einem interessanten Phänomen konfrontiert. Dieses Phänomen hat zwei Gesichter. Wir begegnen dem einen Gesicht wenn manche bei einer Entscheidung voller Hingabe folgen und demjenigen der Verantwortung trägt und an der Kommunikation der Entscheidung beteiligt war ihr volles Vertrauen entgegenbringen. Bei einer anderen Entscheidung jedoch, die in eine ähnliche Richtung geht und von derselben Person kommuniziert wird, reagieren die selben Menschen wie oben auf radikal andere Weise, sie zweifeln an der Kompetenz und überhaupt an der ganzen Person dessen der die Verantwortung übernommen hat und verhalten sich in höchster Weise kontraproduktiv – womit wir dem anderen Gesicht des Phänomens begegnet sind.

Dieses radikal verschiedene Verhalten der selben Personengruppe wirft immer wieder Rätsel bei denen auf, die Verantwortung tragen. Wenn wir unser eigenes Verhalten in Gruppen beobachten, fällt uns – zumindest wenn wir uns für einen Moment ehrlich unseren Gefühlen stellen – das selbe Phänomen auf. Eine Beobachtung unserer Gesellschaft deutet meiner Ansicht nach eine mögliche Erklärung dieses Phänomens an. Dieser Beobachtung bin ich im Vortrag von Michael Herbst in Greifswald begegnet. Er sprach davon, dass das postmoderne Subjekt nicht in Richtung auf die Ziele eines Anderen durch absichtliche soziale Einflussnahme gesteuert werden will. Eine Ablehnende Haltung gegenüber „Leitung“ kann also zunächst einmal allgemein angenommen werden und erklärt uns zumindest das zweite Gesicht des Phänomens.

Wenn ein postmodernes Subjekt sich einer Entscheidung anschließt, so möchte es diese Entscheidung freiwillig, teilweise und zeitweise aus eigenem Entschluss treffen. Eine Verpflichtung einer Entscheidung zu folgen wird ebenso kritisch betrachtet, wie der Wunsch eine Entscheidung in ihrer Ganzheit anzunehmen. Die Annahme einer Entscheidung ist darüber hinaus auf eine bestimmte Zeitspanne begrenzt und kann nicht ein für allemal angenommen werden. Diese Beobachtungen spiegeln auch die ›flüssigen Aspekte‹ unserer Gesellschaft wider über die Zygmunt Bauman im Kontrast zu den statischen Entscheidungen der Generationen vor uns spricht.

Dennoch erleben wir es auch – was im ersten Gesicht beschrieben wurde – dass manche sich scheinbar bedingungslos einer Entscheidung – Leitung – eines anderen anschließen. Dies verwundert uns, vor allem auch weil wir das zweite Gesicht kennen und die eben erwähnten Aspekte die gegenwärtige gesellschaftliche Situation widerspiegeln. Stuart Hall spricht von der zertstreuten Identität und weist darauf hin, dass es keine festen Orientierungspunkte mehr gibt, die für die Ausprägung der Identität als Ganzer maßgeblich sind. Die Entwicklung der eigenen Identität liegt voll in der Verantwortung des Individuums (ohne in dieser Darstellung den Aspekt des gesellschaftlichen Einflusses auf die Identität unterschlagen zu wollen). Das fehlen statischer Orientierungspunkte (Vorgaben) und die volle Eigenverantwortung scheinen das postmoderne Subjekt an manchen Punkten zu überfordern und lassen den Wunsch nach klarer Leitung erwachsen. Eine klare Leitung, die Verantwortung für einen trägt, Entscheidungen abnimmt und somit die eigene Unsicherheit aufhebt wird herbeigesehnt. Und wie wir im ersten Gesicht gesehen haben, resultiert daraus eine bedingungslose Hingabe.

Indem ich diese Punkte aufzeige möchte ich auch bewusst die beiden radikal unterschiedlichen Gesichter nebeneinander stellen. Meiner Ansicht nach ist das auftreten des ersten Gesichtes (die bedingungslosen Hingabe) kein Anzeichen einer neuen Gesellschaftsepoche – die von manchen bereits gesehen wird – sondern ein Aspekt der gegenwärtigen Gesellschaft, der sich auch im Leben eines jeden von uns findet. Es ist mit dem Auftreten dieses Phänomens nicht gesagt, dass sich unsere Gesellschaft weiterentwickelt hat und somit die Zeit nach der Postmoderne konstatiert werden muss, vielmehr ist es – wie eben schon gesagt – ein Aspekt der Postmoderne in der das Nebeneinander von vielen Unterschiedlichen Aspekten gerade zum Kennzeichen unserer Gesellschaft wurde.

Für jeden von uns, der Verantwortung trägt ergibt sich daraus jedoch die Frage: „Wie gehe ich damit um?“ Die ich nun gerne an dich, den Leser weitergeben möchte.

3 Reaktionen

  1. Ich glaube, dass Anlehnung an eine Autorität und Rebellion gegen eine Autorität nahe beieinanderliegen. Jedes Mal spielt das Thema Autorität eine große Rolle im Weltbild. „Die da oben“ sind sehr wichtig für die eigenen Positionierung.
    Wer sich eher an klaren eigenen Lebenszielen und Grundsätzen orientiert, die aus ihm selbst gewachsen, durchdacht, erarbeitet usw. sind, für den ist das Thema Autorität nicht so interessant. Und wer sich primär an Gott orientiert, der kann das Verhältnis zu menschlichen Autoritäten entspannter angehen.
    Langfristig müsste dann die Lösung sein, dass Menschen lernen, etwas Eigenes zu haben, damit sie sich nicht so sehr – positiv wie negativ – an anderen orientieren müssen. Also, im Klartext: Reifung.
    Andere Idee: Freiräume, wo Leute sich auch in einer Leitungsrolle erproben können, ohne all zu viel Schaden anzurichten.
    Ist natürlich alles keine große Hilfe in akuten Problemen. Da hilft wahrscheinlich nur eine reife Leitung, die die Probleme aushalten kann, sich nicht verrückt machen lässt und versucht, Leute ohne allzugroßen Schaden durch eine Reihe von Lernprozessen hindurchzubringen.
    Ich würde aber bezweifeln, ob das mit Postmoderne zu tun hat. Das Verhältnis zur Autorität im Guten wie im Bösen war schon immer besonders ein deutsches Problem.
    Aber schön, dass du das Thema auf den Tisch gelegt hast. Ich denke, dass da viele Gemeinden dran knacken, gerade, wenn sie alte Strukturen hinter sich lassen (die bis dahin den Umgang mit Autorität normiert hatten).

  2. […] hat jüngst die Frage Leitungsverständnisses zwischen Rebellion und Unterwürfigkeit aufgegriffen – ein Spannungsfeld, in dem wir uns wohl alle irgendwie bewegen. Ich bin gespannt auf […]

  3. Walters Hinweis auf die Reife fand ich gut. Die Anforderungen an die Führenden sind hoch, weil man quasi-pubertäres Verhalten noch gelassen ertragen können und von echter Selbständigkeit unterscheiden können muss, denn solche Mitarbeiter will man ja auf keinen Fall gängeln und schließlich vergraulen, während es im ersten Fall oft gar nicht zu vermeiden ist.

    Zugleich wirft es die Frage auf, welche Anreize zu reifer Verantwortung man setzt. Vermutlich sind da ähnliche Absprachen und Vereinbarungen wie mit Mentoren und Coaches nützlich.

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