Bedeutung des Spezifischen
Zur Zeit nehme ich, wenn sich die Möglichkeit bietet – wie z.B. letzten Samstag auf einer Zugfahrt –, sehr gerne das Buch ›Intuitive Leadership‹ von Tim Keel zur Hand. In diesem Buch spricht Tim anhand seiner Geschichte einige Aspekte dessen an, was er als ›intuitive Führung‹ bezeichnet.
Einige Male ist mir bei der Lektüre etwas aufgefallen, das Tim auf Seite 73 als ein Kennzeichen von ›emerging churches‹ bezeichnet:
»Eines der Kennzeichen von ›emerging churches‹ ist es, dass sie die Bedeutung des Spezifischen und Lokalen wiederentdeckt haben. Aus dieser Wiederentdeckung folgt die Notwendigkeit von Geschichten um das Umfeld und die Identität zu interpretieren.«
[frei übersetzt aus Tim Keel, Intuitive Leadership, 73.]
Diese Wahrnehmung teile ich zutiefst. Wir sind uns dessen bewusst, dass sich die Nachfolge und damit verbunden, auch die Gemeinschaft der Nachfolgenden je nach Kontext anders gestaltet. ›Emerging Church‹ kann daher niemals als Modell wahrgenommen werden, das nun lediglich kopiert werden kann, vielmehr geht es darum nach Wegen zu suchen, die Nachfolge kontextuell angepasst in jedem Umfeld zu leben.
Diese Wiederentdeckung des Spezifischen und Lokalen kann auch als Reaktion auf die Annahme einer objektiven Wahrheit und der damit einhergehenden Vereinfachung wahrgenommen werden. Aus der Annahme, dass Erkenntnis und Wahrheit universal sind, folgt ein Vorgehen, welches sich an der Maxime orientiert, dass wenn etwas an einem Ort wahr ist, kann es genauso an allen Orten, zu jeder Zeit und für alle Menschen als wahr angenommen werden – und ist demnach auch für alle gleich autoritativ. Daraus folgt auch, dass es Menschen möglich ist Urteile zu fällen, die frei sind von Vorurteilen, da sie sich auf die Wirklichkeit beziehen, und zwar genau so wie sie ist. Eine weitere Auswirkung dieser Annahmen ist es, Wahrheit als nicht mehr hinterfragbar anzunehmen. Eine gewisse Form von Vereinfachung und Reduktionismus geht damit einher. Dies bedeutet, dass wir eine komplexe Begebenheit beobachten, die wir mittels vereinfachter Abstraktionen beschreiben, welche wiederum keine kontextuellen Überlegungen bedürfen.
Da es sich bei der Wiederentdeckung des Spezifischen und Lokalen um eine Reaktion auf die Auswirkungen dessen was im vorangegangen Abschnitt skizziert wurde handelt, kann dieser Eintrag auch als negative Abgrenzung verstanden werden. Mir geht es jedoch vielmehr darum, anhand der Ausführungen von Tim Keel, hier eine Skizze der Auswirkungen zu entwerfen, die aus der besagen Wiederentdeckung resultieren:
Wahrheit ist daher relativ.
Eine Aussage wie diese schmerz in den Augen mancher, und sie würden es vorziehen das letzte Wort mit ›relational‹ ersetzt zu sehen. Ich schreibe bewusst relativ, da das Konzept der Relativität meiner Ansicht nach genau davon spricht – alles steht in einem bestimmten Verhältnis zueinander – nicht in dieser Welt ist dieser Relativität enthoben (Siehe dazu auch den Relativität-Artikel der Wikipedia).
Nachfolge ist kontextuell.
Aus der Annahme der relativen Wahrheit folgt die Betonung des Kontextes. Die Gestaltung des Lebens sieht in jedem Kontext etwas anders aus, findet sich unterschiedliche Chancen und Herausforderungen ausgesetzt und wird daher unterschiedliche Aspekte betonen. Für mich spiegelt sich dies auch in der narrativen Form der Bibel wieder, es handelt sich bei ihr ja nicht um ein Lehrbuch, durch das bestimmte Lehrsätze vermittelt werden sollen, sondern um die Darstellung der Geschichte Gottes mit den Menschen. Auf diese Weise wird die Idee Gottes für uns anhand der Geschichten erkennbar, wir bekommen dadurch Inspiration um gemäß der Idee Gottes unser Leben im hier und jetzt zu gestalten.
Aus diesen Annahmen folgt für mich auch, dass es kein einheitliches Modell geben kann, an dem sich Gemeinschaften orientieren können, wollen sie in unserer Zeit gemeinsam nachfolgen. Vielmehr ist es uns aufgetragen aus den Geschichten zu lernen – sowohl aus älteren Geschichten der Bibel, Geschichten von Gemeinschaften aus der Vergangenheit, und auch von Geschichten von Gemeinschaften aus unserer Zeit von überall auf der Welt.
Lasst uns nach der Idee Gottes in all diesen Geschichten Ausschau halten, und lasst uns den Heiligen Geist darum bitten, uns in der lokalen Improvisation seiner Idee treu zu leben.
Wenn 2 + 2 je nach Ort 4, 5 oder 6 sein kann, heißt der, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, je nach Ort Jesus, Dalai Lama oder Osama bin Laden, was eine der ganz großen Gefahren der EC ist. Die Relation zwischen Gott und Menschen ist nur EINE Relation, also nicht nach Orten (und meinetwegen Zeiten) bestimmte Relativität. EC versucht, je nach Wissenstand, Herzenswünschen und Coolness relative Götter einzusetzen.
hallo greyhound,
danke für deinen kommentar.
das problem auf das du hier hinweist scheint mir im verständnis des wahrheitsbegriffes gelegen zu sein. wenn wir von kontextueller nachfolge und relativer wahrheit reden, dann ist der bezugspunkt der nachfolge nicht beliebig zu wählen. die annäherungen, die wir bei der beschreibung von „ihm“ verwenden, sind eben dies – annäherungen – und nicht objektive wahrheit. wir treffen aussagen in bewusstem bezug zur langen tradition der christenheit und sind uns dennoch der begrenzten einsicht und der bisweilen subjektiven färbung unserer annährungen bewusst. damit sprechen wir nicht für relative götter und haben die wahrheitsfrage auch nicht aufgegeben – wir stellen sie vielmehr beständig.
freue mich über weiteren austausch. vorzugsweise mit echtem namen und gültiger e-mail-adresse. danke.
Weiteren Austausch werde ich vermeiden. Ich habe erlebt, dass EC’ler so von ihre EC besessen sind, dass sie zwar interessiert zuhören, aber alles was dem Gebäude der EC schaden kann, von vorneherein nicht konstruktiv aufnehmen. Das wird sich in deinen Ohren wahrscheinlich bitter anhören, da du offensichtlich auch ein kluger und nachdenkender Kopf bist und es tut mir leid, das zu sagen, aber so sehe ich es und halte somit auch schon meinen ersten Kommentar zwar für richtig, aber für fehl am Platz (zwischen die zwei zweier am Anfang gehört im Übrigen eigentlich noch ein Pluszeichen, welches aber aus irgendeinem Grund nicht übertragen wurde). Manchmal kann ich halt trotz allem meine Klappe nicht halten.