Rammstedt: Wir bleiben in der Nähe
Erst kürzlich wurde Tilman Rammstedt für einen Ausschnitt aus seinem Roman ›Der Kaiser von China‹ (Hier ein Link zum Text als PDF) mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Da dieser am 18. September erscheint bin ich gerade noch rechtzeitig um den Roman ›Wir bleiben in der Nähe‹ zu lesen und darüber sagen zu können, dass es sein aktuelles Werk ist. Ein sehr gelungener Roman, wie ich finde. Ich hatte bereits sein Debüt gelesen und bin auch von diesem, seinem zweiten Roman sehr angetan. Bereits auf der ersten Seite gewinnt er mich durch die Art und Weise die Wirklichkeit und Gedankengänge zu beschreiben:
Auch das Meer ist nicht gut in Entscheidungen. Ständig ändert es seine Grenzen, fließt vor und zurück, lässt Dinge liegen und nimmt sie beim nächsten Mal dann doch wieder mit, das macht es ganz und gar unmöglich, beim Meer einen klaren Anfang auszumachen. Das Ende hingegen ist deutlich, das Ende ist eine gerade Linie, der Horizont, und auch wenn man natürlich weiß, daß der Horizont nichts beendet, höchstens die eigene Wahrnehmung, auch wenn man weiß, dass sich das Meer am Horizont nicht so leicht aufhalten lässt, dass es den Horizont nicht einmal wahrnimmt, so ist das letztlich gleichgültig, denn wie bei allen großen Dingen bedeutet Ende auch beim Meer: so weit das Auge reicht.
Das Meer muss aber auch gar nichts entscheiden, ich muss etwas entscheiden, und dabei ist das Meer keine große Hilfe. Es ist zu laut, es lässt zu viel Platz für den Wind, und dennoch bleibe ich, dennoch glaube ich, wenn überhaupt, dann hier auf die Antwort zu stoßen, plötzlich vor ihr zu stehen, beinah über sie zu stolpern, weil es sich jetzt nur noch um einen Geistesblitz handeln kann, einen Glückstreffer, eine Flaschenpost, denn in vier Stunden muss ich etwas entschieden haben…
Mit diesen Sätzen eröffnet Rammstedt den Roman und wird am Ende zu eben dieser Situation zurück kehren um abschließend einen kleinen Augenblick weiter zu gehen. Die Hauptdarsteller des Romans sind Konrad, Katharina und Felix. Felix erzählt uns eine Geschichte, eine Geschichte in der die Entscheidung die sich in der Eröffnungsszene andeutet den meisten Raum einnimmt, begleitet von einer Reihe weitere Entscheidungen die getroffen wurden, getroffen werden sollten oder nie getroffen wurden und sich teilweise selbst trafen. Konrad, Katharina und Felix waren gute Freunde die viel Zeit ihres Lebens zusammen verbrachten. Immer wenn sie zu dritt sind ist die Welt in Ordnung, Drei ist gut. Die Ordnung gerät mit Katharinaundkonrad aus dem Gleichgewicht und ändert sich durch Konrads Seminare in Frankfurt nochmals ungemein an den Donnerstagen.
Die Freundschaft entwickelt sich auseinander und führt zu drei Jahren der absoluten Stille. Erst als die Hochzeitseinladung von Katharina bei Felix landet wird das Schweigen gebrochen. Die Geschichte der Drei werden uns in den Gedanken erzählt, die Felix in dieser Nacht der Entscheidung am Meer durch den Kopf gehen. Auf diese Weise machen wir eine Reise in die Vergangenheit um schließlich wieder in der Gegenwart anzukommen.
Wir bleiben in der Nähe ist das unterschwellige Thema des gesamten Romans. Nur an einer Stelle fällt er explizit, in einer nächtlichen Unterhaltung an einer Autobahnraststätte während Felix und Konrad einen Kaffee trinken gehen und Katharina schlafend im Auto zurück lassen.
Ich genieße den Schreibstil von Rammstedt ungemein. Er schafft es das Alltägliche auf eine Weise zu erzählen, dass man Teil des Geschehens wird. Er steigert das Tempo an Stellen an denen sich Gedanken beginnen zu drehen oder Emotionen ausbrechen, unweigerlich erhöht sich die Lesegeschwindigkeit. Dann wieder verlangsamt sich das Erzähltempo, wird nachdenklich, unsicher, schlaflos und doch voll Schwere. Eine andere liebenswerte Besonderheit besteht darin, dass er exakt die selben Formulierungen in unterschiedlichen Kontexten aufgreift und dadurch einen Zusammenhang herstellt und Erinnerungen hervorruft. Erinnerungen an ein Leben, in das man nur mittels dieses Romans eingetaucht ist.
Eine sehr kurzweilige Lektüre, die ich nur empfehlen kann: Tilman Rammstedt, Wir bleiben in der Nähe.