Kapitalismuskritik
Aus dem Sammelband Metamorphosen des Kapitalismus und seiner Kritik der von Rolf Eickelpasch, Claudia Rademacher und Philipp Ramos Lobato herausgegeben wurde habe ich mich mit dem äußerst interessanten Kapitel »Produktivkraft Kritik. Die Subsumtion der Subversion im neuen Kapitalismus« von Tobias Künkler beschäftigt. Tobias setzt sich darin mit der Tatsache auseinander, dass die herkömmliche Kapitalismuskritik in das System des neuen Kapitalismus integriert wurde und sich darin sogar zu einer Triebkraft für das System entwickelte welches es zunächst kritisierte. Von dieser Feststellung aus betrachtet er mögliche Ansätze einer erneuten und erneuerten Kritik.
Die vier Diagnosen des aktuellen Standes der Kapitalismuskritik die Tobias in diesem Kapitel beschreibt fasse ich hier in zwei Bereichen zusammen.
a) Einverleibung der Kritik
Den ersten Bereich bildet die Lähmung der Kritik durch deren Verinnerlichung. Der Kapitalismus ist nach Beobachtung von Boltanski und Chiapello nicht deswegen so stark weil er eine hohe Kritikresistenz aufweisen würde, sondern weil er dazu in der Lage ist Kritik auf äußerst gute Weise zu verinnerlichen und sie so als Teil des Systems kraftlos zu machen.
Zwei Arten der Kapitalismuskritik werden von Boltanski und Chiapello charakterisiert. Auf der einen Seite existiert die Sozialkritik, die „sich einerseits an Armut und Ungleichheit sowie andererseits an Opportunismus und Egoismus entzündet” (Künkler, 31.). Auf der anderen Seite die Künstlerkritik, die „sich aus der Empörung über Sinnverlust, der Zerstörung von Authentizität und Kreativität in der bürokratischen Massengesellschaft sowie der Unterdrückung speist“ (Künkler, 31.). Diese beiden Arten der Kritik finden sich im gesamten Verlauf des Kapitels, weshalb sie hier kurz angeführt werden.
Die Gouvernementalitätsstudien thematisieren vor allem den Rückzug des Staates und die damit verbundene Dominanz des Marktes, der folgenden Werten folgt:
„Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Kritik sind im Rahmen neoliberaler Gouvernementalität zur entscheidenden Triebkraft des Systems geworden. Subjektivität ist damit nicht mehr letzter Rückzugs- oder Widerstandspunkt, sondern längst in die stets wachsende Optimierungszwänge des kapitalistischen Gesamtsystems eingespannt.“ (Künkler, 33.)
Auf diese Weise wird schnell der Aspekt der Individualisierung deutlich, durch die die Künstlerkritik und mit ihr der Ruf nach Authentizität und Selbstverwirklichung zur Triebkraft wider Willen des Kapitalismus wurde:
b) Individualisierung der Arbeitsleistung
Die Künstlerkritik wurde durch die Einverleibung der Individualisierung ad absurdum geführt. Tobias skizziert diese Entwicklung treffend anhand des folgenden Abschnittes:
„Sein Vorbild findet das unternehmerische Selbst im Genius des Künstlers. Zu den Paradoxien neoliberaler Gouvernementalität zählt dabei, dass gerade in Zeiten, in denen Ersetzbarkeit und Überflüssigkeit des Einzelnen offenkundig sind, ein Persönlichkeitsideal mit einem höchstmaß an kreativer Individualität und unternehmerischer Initiative propagiert und beschworen wird. Selbstdisziplinierung und Selbstenthusiasmierung laufen im Leitbild des Arbeitskraftunternehmers parallel.“ (Künkler, 35.)
Das unternehmerische Selbst zeichnet sich durch die Selbstdiziplinierung und Selbstmotivation aus. Der Mensch wird zu seinem eigenen Chef und treibt sich selbst zu Höchstleistungen an. Verbunden mit den Gedanken des Projektarbeiters dessen höchstes Gut Aktivität und Mobilität sind und der sich dem Ungebundeheitsimperativ unterwirft, wird die Tendenz zur Entwurzelung des Individuums aus seinem Umfeld deutlich. Der Druck unter dem die jeweilige Person steht, die mancherorts auch als Humankapital bezeichnet wird, erfolgt nicht von aussen, sondern kommt von innen, aus dem Selbst.
Auf die Schilderung der unterschiedlichen Ebenen auf denen Kapitalismuskritik in das System integriert wurde und somit ihre Zähne verlor bzw. einfach ad absurdum geführt wurde folgt die Frage danach wie gemäß der beiden beschriebenen Ansätze eine wirkungsvolle Kritik aussehen könnte. Hier zeigt er die beiden Lösungsansätze der unterschiedlichen Theorien auf:
1. Die Gouvernementalitätsstudien sagen: ’Anders anders sein’
Gerade dann, wenn der Markt die Unterschiedlichkeit und Individualität stark betont und fordert, ist nach Ansicht der Governementalitätsstudien eine Kritik nur im Sinne der erneuerten Künsterkritik in der Kunst des anders-anders-Seins vorstellbar:
„Eine solche Kunst sucht nach Bröckling der Falle zwischen Einverleibung und Aussonderung durch kontinuierliche Absetzbewegung, den Mut zur Zerstörung, Beweglichkeit, geschicktes Ausnutzen von Chancen zu entkommen. Subversivität und Widerstand können aufgrund der Unentrinnbarkeit des unternehmerischen Kraftfeldes nicht mit Hilfe globaler Strategien, sondern nur in punktuellen, lokalen Taktiken erfolgen. Die Künstler des ‚Anders-anders-Seins‘ setzen “dem Distinktionszwang ihre Indifferenz entgegen, dem Imperativ der Nutzenmaximierung die Spiele der Nutzlosigkeit” (ebd.).“ (Künkler, 38.)
Diese Kunst ist jedoch nur von einer relativ kleinen Personengruppe lebbar, und gerade bei dieser Personengruppe stellt sich Tobias die Frage weshalb sie den Weg der Kritik einschlagen sollte.
2. Erneuerung von Künstler- und Sozialkritik schlagen Boltanski und Chiapello vor.
Der alte Kampfbegriff der Ausbeutung ist nach Boltanski und Chiapello wieder zu beleben. Im Laufe der Entwicklungen des kapitalistischen Systems hin zum Netzwerkkapitalismus wurde der Ausbeutungsbegriff durch den Ausgrenzungsbegriff ersetzt. Letzterer ist jedoch nicht als Kampfbegriff zu gebrauchen, da er eher zu Mitgefühl als zu kämpferischer Kritik führt. Die Kritik habe demnach zu zeigen, dass die heutigen Formen des sozialen Elends mit sozialer Ungerechtigkeit und nicht mit persönlichem Versagen zusammenhängt:
„Sie hätte deutlich zu machen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem Reichtum der einen und der Armut der anderen, dem Glück der Starken und dem Unglück der Schwachen. So könnte die Empörung über Egoismus und Ungerechtigkeit – neben der Entrüstung über Armut und Not seit je eine mächtige Quelle der Sozialkritik – neu entfacht und zum Motor antikapitalistischen Protests werden.“ (Künkler, 40.)
Zur Begründung ihres Ausbeutungskonzeptes weisen Boltanski und Chiapello auf die Differenz der Mobilität unterschiedlicher Personengruppen hin. Die mobile Personengruppe kann nur deshalb aus ihrer Mobilität Profit schlagen da es auch eine Personengruppe gibt die weniger mobil ist. Diejenigen die mobil sind werden im Netzwerkkapitalismus als stark betrachtet und gehören daher zu den Gewinnern, die weniger mobilen dagegen gehören zu den Verlierern. Mit dem Vorschlag nach Korrekturen auf Ebene der Sozialpolitik – beispielsweise in der Leistungserfassung – soll die systembedingte Ungerechtigkeit angegangen werden.
Auf der anderen Seite plädieren sie auch für eine Erneuerung der Künstlerkritik, diese bestehe im Netzwerkkapitalismus vor allem in einer Strategie der Entschleunigung. Das Band das bislang Emanzipation und Mobilität verband sei zu durchtrennen. Immobilität, Dauer und Beständigkeit würden damit zu Emanzipationsfaktoren der Künstlerkritik. In diesem Zuge werden auch haltgebende Kollektivformen wie Nation, Klasse und Familie rehabilitiert. Diese dienen den Künstlern im Kampf gegen die Entwurzelung.
Alle Kritikansätze seien nach Boltanski und Chiapello ständig neu zu überdenken da sie einverleibt würden und daher immer neue Formen einnehmen müssen. In der Einverleibung der Kritik sehen sie gleichzeitig auch die Chance der langsamen aber beständigen Veränderung des Kapitalismus hin zum Besseren.
Resümee
Aus dem Resümee von Tobias Künkler möchte ich zunächst einen Abschnitte zitieren, der meiner Ansicht nach wesentliche Aspekte seines Resümees im Sinne einer kritischen Würdigung der beiden beschriebenen Ansätze zum Ausdruck bringt:
„Wähernd die Gouvernmentalitätsstudien den Widerstand gegen die ehernen Zwänge des neuen Kapitalismus der Sisyphusarbeit der Einzelnen zu überlassen scheinen, setzen Boltanski und Chiapello eher auf kollektive Protestformen und das Reformpotenzial des Staates. Sie plädieren für das klassische Modell einer sozialen Marktwirtschaft und suchen auf politischer Ebene die Implementierung gesetzlicher Vorschriften zu forcieren, die die negativen Effekte des kapitalistischen Systems wenn nicht ausmerzen, so doch lindern sollen.“ (Künkler, 44f.)
Tobias weist auf die überraschend ähnlichen Diagnosen hin, zu denen die beiden unterschiedlichen Ansätze führen. Entscheidende Unterschiede sind jedoch in den Vorschlägen zur Erneuerung der Kritik zu entdecken: die Gouvernementalitätstudien konzentrieren sich auf die Kunst des ‚anders-anders-Seins‘ der Individuen. Dieser Ansatz beschränkt sich jedoch auf eine eingeschränkte Personengruppe die im Umfeld der Bohemien zu finden ist. Es sind daher nur relativ wenige Personen tatsächlich in der Lage diese Art der Kritik zu leben und bei ihnen stellt sich darüber hinaus noch die Frage aus welchem Grund sie Willens sein sollten sich gegen das System zu stellen. Auf der anderen Seite steht, das eher am Kollektiv ausgerichtete Modell von Boltanski und Chiapello, in der Gefahr, durch den eigenen Reformansatz nur minimale Auswirkungen auf das System zu haben.
Abschließend plädiert Tobias für die Verbindung von Künstlerkritik mit der Logik der Sozialkritik und damit für den Anschluss an die Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit – auf diese Weise könnte eine aussichtsreiche Kapitalismuskritik entstehen.