Konstruktion der Wirklichkeit

Gestern Abend habe ich mich mit einer Freundin über den multiplen Roman von Nanni Balestrini unterhalten. Balestrini komponierte diesen Roman und dekonstruiert damit gekonnt die Gattung Roman. Wie macht er das?

Zunächst ist zu sagen, dass Balestrinis Roman »Tristano« eine Komposition von Zitaten aus unterschiedlichen Werken ist. Er führt hier „normale“ Romane, Groschenromane, Reiseführer und Sachbücher zusammen. Der Roman hat zehn Kapitel und jedes Kapitel besteht aus derselben Anzahl von Abschnitten. Diese Abschnitte sind so konzipiert, dass sie in beliebiger Form wiedergegeben werden können. Genau das macht die digitale Drucktechnik nun möglich, weshalb keines der 2000 deutschsprachigen Exemplare die selbe Reihenfolge besitzt. Innerhalb des Romans taucht jeder Satz an zwei unterschiedlichen Stellen auf. Alle Namen, seien sie von Personen oder Orten wurden durch ein einfaches C ersetzt.

Aus dieser kurzen Beschreibung wird schon deutlich, dass dem Roman wichtige Elemente „fehlen“. Er besitzt keinen Erzählstrang. Die Ereignisse folgen nicht einer bestimmten Reihenfolge, daher existiert weder ein Höhepunkt noch sonstige Spannungsbogen. Es ist keine klare Identifikation mit Personen oder Orten möglich. Da es sich lediglich um Zitate aus unterschiedlichen Büchern handelt finden sich ganz unterschiedliche Personen und Orte in dem Buch, so dass es nicht einmal möglich ist an bestimmten Charakteren zu orientieren. Wie bereits gesagt dekonstruiert Balestrini damit den Roman.

Interessant ist bei der Lektüre jedoch, dass in den Gedanken der Leserin oder des Lesers ein Bild entsteht. Eine Geschichte beginnt sich zu formen. Bilder der Szenen bilden sich vor dem inneren Auge ab und man findet sich in der Geschichte wieder. Meiner Ansicht nach ist Balestrini mit diesem Roman ein Geniestreich gelungen. Er führt uns damit vor Augen, dass vieles von dem was wir in Texten lesen „in uns“ bzw. in der Interaktion mit dem Text, unseren Erfahrungen und den Menschen in unserem Umfeld entsteht.

Damit will ich nicht sagen, dass es durch eine bestimmte Komposition nicht möglich ist die Leserin oder den Leser mit in ein Thema zu nehmen oder bestimmte Erlebnisse anzuregen. Ein eindeutiges: hier steht es schwarz auf weiß jedoch, ist angesichts solcher Erkenntnisse schwerlich zu vertreten.

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