Leitungsverweigerer

Nach dem Eintrag zum dritten Kapitel des Buches »Insurrection« verließ ich die Reihenfolge und verwies auf einen Abschnitt aus dem letzten Kapitel. Nach längerer Pauses schreibe ich heute etwas zum vierten Kapitel. Eigentlich verwende ich das vierte Kapitel mehr als Sprungbrett um über einen Aspekt zu schreiben, der in diesem Kapitel angesprochen wird – Leitung.

Gestern Abend las ich einige Artikel in meinem Feedreader, darunter waren auch zwei Artikel des Blogs »The Church and Postmodern Culture«, in dem zur Zeit ein paar Artikel zu »Insurrection« veröffentlicht werden, auf die wiederum Peter Rollins eingeladen ist in einem eigenen Artikel zu reagieren. Ich begann meine Lektüre mit einem Artikel von Dr. Katharine Moody, die vor allem auf das vierte Kapitel einging.

Die im Kapitel angesprochene Problematik – dass einige Pastoren zwar zweifeln, ihre Zweifel jedoch nicht in ihrer Gemeinde artikulieren können, gleichzeitig jedoch einige Gemeindeglieder ihre Zweifel zulassen, da sie annehmen der Pastor glaube ja für sie – ergänzt sie durch ein allgemeines in Frage stellen von Leitung. Hier weist sie zunächst auf Rollins Gedanken zu Leitern hin, die es verweigern zu leiten. Diese Leitungsverweigerung müsse ihrer Ansicht nach durch den Ansatz von Slavoj Žižek ergänzt werden, der davon spricht, dass eine Gemeinschaft verweigern sollte geleitet zu werden. Zur weiteren Auseinandersetzung mit diesen Gedanken empfehle ich die Lektüre des Artikels von Dr. Moody. Rollins greift in seiner Reaktion diesen Gedanken auf und bedankt sich für den Hinweis auf die Notwendigkeit der Verweigerung einer Gemeinschaft geleitet zu werden.

Leitungsverweigerung

Leitungsverweigerung war ein Wort das mir in diesem Zusammenhang einfiel. In meinen Auseinandersetzungen mit Möglichkeiten von Gemeinde in unserer Zeit wurde ich immer mehr zum Leitungsverweigerer. Immer wieder wurde dies auf meine Erlebnisse geschoben, und ich wurde dazu ermutigt meine „Leitungsgabe“ auszuleben. Man kann sich sicher darüber streiten, was Leitung bedeutet, allgemein gesprochen lehne ich das meiste was ich diesbezüglich bisher gesehen habe immer noch ab – und sehe die Chance der emergenten Bewegung in einer Leitungsverweigerung – vielleicht auch dann, wenn wir keine wirklich anderen Konzepte anbieten können.

Wie Rollins bin auch ich der Auffassung, dass so genannte Leiter verweigern sollten zu leiten. Es ist viel wichtiger Fragen zurück zu stellen, Räume zu eröffnen und offen zu lassen, als Antworten anzubieten und Wege zu zeigen. Einige Gedanken dazu habe ich damals versucht in das Kapitel »Ermöglichende Strukturen« einfließen zu lassen, dass ich gemeinsam mit Daggi und DoSi für Beziehungsweise Leben geschrieben habe. Immer wieder trieb mich die Frage um, ob das tatsichtlich ein lohnenswerter Ansatz sei, denn er ist alles andere als bequem. Wie so vieles was dekonstruiert wird, erscheint ein solches Handeln schwach und nicht zielführend. Es wird gerne mit Charakterschwäche und Entscheidungsunwilligkeit oder -unfähigkeit in Verbindung gebracht. Ab und an wird der freie/leere Raum auch in Beschlag genommen und für andere Zwecke genutzt. Ganz zu schweigen von der Versuchung »ein Machtwort« zu sprechen und dann doch in alte Muster zu verfallen und zu leiten, Einfluss zu nehmen, Entscheidungen zu treffen, Wege zu zeigen, voran zu gehen oder Antworten zu geben.

Es ist notwendig, dass wir als Gemeinschaft zu dem Punkt kommen, nicht geleitete werden zu wollen. Keine Leiterinnen oder Leiter zu dulden. Als Gemeinschaft gemeinsam Wege zu gehen und in gewisser Weise basisdemokratisch zu leben.

Im Nachdenken darüber fiel mir auf, dass es wichtig ist eine Gruppe von Menschen bspw. durch Ernennung und Wahl zu bestimmen, die darauf achten, dass das Leitungsvakuum gewahrt bleibt und die Entscheidung bei der Gemeinschaft als Ganzer liegt. Gibt es keine Gruppe von Leitungsverweigerern, die moderierend die Entwicklung der Gemeinschaft begleiten, sehe ich bislang das Risiko noch zu sehr, auch an dieser Stelle in alte Muster zu fallen und der oder dem Lautesten zu folgen, oder einen Zickzack-Kurs einzuschlagen mit jeweils wechselnden Machtverhältnissen. Während für mich das Bild der leitungsverweigernden Leitung bisher unverständlich schien, fügt es sich in den letzten Tagen zu einem stimmigen Konzept zusammen.

16 Reaktionen

  1. Ich denke gerade noch darüber nach, was Du hier geschrieben hast, und hänge gerade an folgendem Zitat: „Es ist viel wichtiger Fragen zurück zu stellen, Räume zu eröffnen und offen zu lassen, als Antworten anzubieten und Wege zu zeigen.“

    Für mich stellt das „Wege zeigen“ noch kein Problem dar, denn es ist das Vorschlagen einer Möglichkeit – von vielen. Darauf ganz zu verzichten geht für mich zu stark damit einher, auf seine eigene Stimme ganz zu verzichten – da für mich jede Meinungsäusserung bzw. Lebensführung einen Weg zeigt, wie man etwas machen kann.

    Und ich glaube, dass das Fragen stellen, Räume eröffnen und offen lassen (und keine direkten Antworten zu bieten) auch eine Art ist, einen Weg vorzuschlagen. Finde ich jetzt nicht sonderlich kritisch, sondern sogar wünschenswert, damit auch ein Diskurs stattfindet.

    Hmhm.

  2. Moin Martin,
    ich hatte das Wege zeigen direktiver gedacht, die Mehrzahl also nicht für den Einzelfall, sondern im Verlauf der Zeit. Insofern stimme ich dir natürlich zu.

  3. Okay. Werde die anderen Sachen mal mit in meinen Alltag nehmen und drüber nachdenken. Vielleicht kehre ich dann mit einem Kommentare wieder hierher zurück. Ist auch für mich ein wichtiges Thema, trifft schon einige Punkte…

  4. spannendes thema. die einrichtung eines gremiums, das darauf achtet, dass in einer gruppe nicht geleitet wird, scheint mir jedoch der falsche weg, denn dieses gremium ist letztlich doch dann nichts anderes als eine leitungsinstanz, oder? viel besser ist es doch, an die mündigkeit jedes einzelnen gruppenmitglieds zu glauben und diese gegebenenfalls auch einzufordern. ich denke, das könnte zu einer guten selbstkontrolle innerhalb der gruppe führen.

  5. Diese Gedanken beschäftigen mich auch immer wieder und ich komme immer auf einen Punkt bei denen ich erst mal hängen bleibe. In einigen Kontexten funktioniert es „Leitung zu verweigern“ und dadurch Mündigkeit zu fördern (z.B. Netzwerk leiten, Initiativen, Hauskreise…). Was ist aber wenn man Personen in der Gruppe hat, die erst in die Mündigkeit geführt werden müssen und noch nicht in der Lage sind selbst zu entscheiden? Beispiel bei einigen Kindern muss man auch Entscheidungen für sie treffen. Gibt es in der Nachfolge auch Kontexte, wo dies erforderlich ist? Was ist mit dem 13 jährigen Teeni den du im Glauben anleitest. Hier wäre für mich Leitungsverweigerung nicht unbedingt angebraucht. Dieser muss einfach in die Mündigkeit ins Erwachsen leben hineingeführt werden, oder?

  6. @jörg klar ist es mit jugendlichen und evtl. sogar mit jungen erwachsenen was anderes, auch wenn ich es wichtig finde, dass man diese menschengruppe zu 100 % ernst nimmt.
    bauchschmerzen bereiten mir aber eher erwachsene, die ihren persönlichen handlungsspielraum auf ausgerufene leiter verlagern, und gerade das kommt in christlichen kreisen ja ziemlich häufig vor (findet sich aber auch in anderen bereichen der gesellschaft). ich halte es jedenfalls für einen grundsätzlichen fehler, „leitung“ als „gabe“ zu deklarieren, die es zu fördern gilt. genauso ist es jedoch irreführend, von menschen zu verlangen, dass sie nicht leiten, denn leiten ist doch nichts anderes, als zielgerichtet zu handeln und kann nur soweit einfluss erlangen, wie diesem handeln auch gefolgt wird. kurz: ein leiter ist nur leiter durch die anderen. und deshalb gefällt mir der zizek-ansatz auch sehr gut, weil er die mündigkeit jedes menschen einfordert und die verantwortung nicht in die hand einzelner legt. man könnte rollins unterstellen, dass er durch die reduktion des themas auf die leitungsverweigerung einzelner, von der gegebenen unmündigkeit der gesamten gruppe ausgeht. diese grundannahme mag ich mir nicht zu eigen machen.

  7. Vielen Dank für eure Kommentare. Ich schreibe mal meine Gedanken nach und nach dazu …

    Karola, ich denke, dass eine solche Gruppe zum einen in der Tat als eine Art Leitungsgremium wahrgenommen werden kann, dass es hier jedoch vor allem darum geht wie dieser Raum ausgefüllt wird. Die wichtige Art eine solche Rolle auszufüllen beschreibst du meiner Ansicht nach sehr gut. In der Annahme der Mündigkeit und die Erinnerung an dieselbe „leitet sich eine Gruppe selbst“ und Entscheidungen (auch im eigenen Leben) werden verantwortlich getroffen und gelebt. Es kann sein, dass sich ein solches Gremium überflüssig macht, das ist zumindest meine Hoffnung, bisher sehe ich es in vielen Kontexten jedoch noch für wichtig an.

  8. Jörg, ich denke, dass in den von dir angesprochenen Fällen sehr viel davon abhängt wie der Begriff „Leitung“ verstanden wird. Ich würde im Zusammenhang von Begleitung nicht von Leitung sprechen – auch wenn lustigerweise das Wort enthalten ist. Ich zweifle irgendwie auch daran, dass man jemanden in Mündigkeit führen kann. Zumindest würde ich es anders ausdrücken. Wenn wir beim Beispiel der Kinder bleiben, dann bringe ich meine – wenn auch noch nicht so massig vorhandene – Lebenserfahrung ein, höre zu, stelle Fragen, biete Möglichkeiten an, alles unter dem Gesichtspunkt – idealerweise – der Person dabei zu helfen ihren Weg zu gehen. Die Mündigkeit zu der die Person gelangt kann in meinen Augen schmerzlich sein, da sie anders lebt, andere Entscheidungen trifft als ich es tun würde, aber das erscheint mir wichtig. Aus diesem Grund denke ich, dass eine Leitungsverweierung diesbezüglich auch darin bestehen kann die Verantwortung für Entscheidungen nicht zu übernehmen, sondern einer Person dabei zu helfen selbst (was auch immer das bedeutet, denn autark entscheidet niemand) Entscheidungen zu treffen und diese zu verantworten. Das hat sicher mit Beziehung und Dialog zu tun, meiner Ansicht nach jedoch nicht mit einer Form von Sellvertretung.

  9. Karola, so wie ich es verstehe unterstellt Rollins einer Gruppe nicht die Unmündigkeit, sondern spricht – soweit ich es verstehe – mehr von einem System der Stellvertretung. Das System suggeriert, dass jemand stellvertretend für mich glaubt, weswegen ich mich de kognitiven Zweifel hingeben kann, ohne die Furcht und Leere zu erleben, die mit dem Verlust der „Sicherheiten“ einhergeht. Wie gesagt habe ich das Kapitel nur als Sprungbrett verwendet.

  10. @daniel
    die kritik an einem „stellvertretenden sicherheiten geben“ in form von leitung kann ich gut nachvollziehen. ich glaube, das geben absoluter antworten oder das vorschnelle füllen von lücken ist wie eine falle, in die menschen tappen, wenn sie spannungen oder das wagnis der unsicherheit zu vermeiden suchen. kommt z.b. häufig vor, wenn erwachsene ihren kindern die welt oder gott erklären. ich nenne es mal die „ich möchte sicherheit vermitteln“-falle. nach meiner erfahrung können aber sogar kinder wesentlich mehr (theoretische) unsicherheiten oder sogar widersprüche vertragen, als man gemeinhin so annimmt. vielleicht sollte man sich da immer die frage stellen, wie sehr man sich selbst oder andere mit vermeintlichen sicherheiten betrügen will? – leitungsverweigerung in diesem sinne finde ich jedenfalls mehr als angebracht.

  11. Hm, was aber, wenn das, was Du hier meinst (allen in einer Gemeinschaft die Partizipation in angemessener Form offen zu halten) ein Teil dessen wäre, was man unter „Leiten“ zu verstehen hätte?
    Und wie verhält es sich mit dem bekannten Diktum „wer fragt, führt“ in diesem Zusammenhang?

  12. Peter, wenn das was du oben beschreibst – also Möglichkeiten zu schaffen, dass eine Gemeinschaft gemeinsam (von allen) geführt wird – Leitung bedeutet, dann finde ich das natürlich sehr gut, und es kommt dem sehr nahe, was ich oben beschrieben habe. Landläufig hat es jedoch mehr mit Einfluss wahrnehmen und geltend machen, oder an anderen Stellen mit direktiven Führung durch Einzelne zu tun, das finde ich allerdings fragwürdig.
    Ich kannte das Diktum „wer fragt, führt“ noch nicht, oder erinnere mich zumindest gerade nicht daran. Was verstehst du darunter?

  13. Ich finde, die meisten aktuellen Handbücher zum Thema geistlich Leiten gehen doch stark in die Richtung, die Du hier zu meinen scheinst. Fast niemand will die Autonomie einzelner einschränken, sondern ein irgendwie organisches Zusammenwirken fördern und den nötigen Konsens herzustellen, der dies ermöglicht. Auf wen münzt also Rollins und auf wen münzt Du Deine recht pauschale Kritik eigentlich konkret?

    Wer fragt, führt: Fragen lenken in einem Diskurs die Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung. Wer fragt, beeinflusst die Richtung im Zweifelsfall viel stärker als der, der „antwortet“. Was wieder einmal zeigt, wie komplex das Führen tatsächlich ist.

  14. […] wir ja aber alle wissen, dass Rollins ein Leitungsverweigerer ist, kann der Verweis auf seine Kompetenz als Meinungsführer ja eigentlich auch nur Ironie sein. […]

  15. „Leitungsverweigerung“ ist ein polemischer Begriff und als solcher auch sehr brauchbar. Als wohlüberlegtes Konzept reicht er nicht (ganz).
    Die Fähigkeit, sich selbst zurückzunehmen, ist natürlich in jedem Fall eine Tugend, die Führungspersönlichkeiten beherrschen sollten, man muss sich aber klar machen: ein Vakuum bleibt nie lange leer, es sei denn, dass es strukturell festgeschrieben oder institutionalisiert ist. Die in unserer Zeit sehr ungeliebten Strukturen von Kirche können durchaus beim „Offenhalten“ solcher Räume helfen; nicht alles darf der gemeindebauenden Gestaltungsgewalt und spirituellen Kreativitätswut in die Hände kommen. Und dazu braucht es erkennbare Leitung.

    Ergänzung
    In Jer 2,5f+8 wird an den religiösen Vorbildern und Führern vor allem eines kritisiert: sie haben nicht gefragt „Wo ist der Herr?“
    Fragen müssen ernstgemeint sein. Eine ernst gemeinte Frage ist ein echtes Suchen-und-Finden-wollen. Eine ernstgemeinte Frage ist dabei nicht rhetorisch, also noch echtes Nichthaben . Wenn ein Leiter sich solches Fragen traut und es anderen zumutet, bleibt das langfristig nicht ohne Wirkung auf die Gemeinschaft, die er führt.

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