Liebe und Leidenschaft

Liebe und Leidenschaft bewegen sich in einer postpatriarchalen Gesellschaft nicht im Rahmen von begriffen haben, besitzen und beherrschen. Sie spielen sich also nicht im Dualismus der feurigen Verliebtheit und der Einöde jahrelanger Partnerschaft ab, sondern bewegen sich im Spannungsfeld der Differenz und des Unbekannten.

»Zu jemandem oder etwas hin zu lieben, statt sie, ihn oder es zum Spiegel eigener Wünsche zu machen, Berühren und gemeinsames Bewegen statt Einheit und Eindeutigkeit zu suchen, das wäre laut Luce Irigaray die eigentliche, die wirkliche Leidenschaft.«

Quelle: Ina Praetorius, Immer wieder Anfang, Seite 53.

Diese Haltung zu Liebe und Leidenschaft sieht Ina Praetorius auch in der so genannten »Feindesliebe«, die sie wie folgt in unsere Zeit überträgt:

»Man hat euch gesagt, Liebe bedeute, Bekanntes zu wollen und Unbekanntes zurückzuweisen. Man hat euch gesagt, Leidenschaft ziele auf Einheit und Einigkeit: zwischen Mann und Frau, Mutter und Kind, Verwandten und Nachbarn, Angehörigen verschiedener Kulturen und Religionen. Fremdheit sei gefährlich, hat man uns eingeschärft, sie sei der Liebe Feind, wir sollten sie draußen lassen und stets das eigene Spiegelbild im Unbekannten zu suchen, notfalls mit Gewalt verdrängen, was uns befremdet: den Eigensinn der Ehefrau, das Minarett und den Muezzin, die Verzweiflung des Flüchtlings, die Arroganz des Bankers …

Spannender aber ist das Zusammenleben so: Interessiere dich gerade für das, was du nicht verstehst, denn GOTT ist INTER-ESSE, DAZWISCHEN-SEIN, nicht nur VATER, auch MUTTER. Ist es denn interessant, in allem nur das zu finden, was man schon kennt oder zu kennen glaubt? Empfindest du Leidenschaft zur Welt nicht eigentlich erst dann, wenn SIE dir täglich neu begegnet, überraschend irritierend in ihrer Fremdheit, die sich niemals dem Altbekannten anverwandeln lässt? Orientiert euch also an GOTT, die ANDERS bleibt, sich niemals einordnen lässt in das, was schon erkannt ist: ICH BIN, DIE ICH BIN (vgl. Ex 3,14) und nicht, was du aus mir machst.«

Quelle: Ina Praetorius, Immer wieder Anfang, Seite 56.

Gelingendes Miteinander wäre demnach nicht von Festlegungen geprägt, sondern von der Treue zueinander, in dem Wissen und der täglichen Erfahrung der Überraschung, des Unerwarteten. Zulassen, dass wir immer nur Bruchteile unserer Gegenüber erkennen, und sie nicht in unser Wunschbild zu verändern.

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