Homosexualität und Christsein (5)
Walter Wink schreibt im vierten Kapitel des Buches »Homosexuality and Christian Faith« über Erwähnungen von Homosexualität in der Bibel und was sich daraus ableiten lässt.
Bei diesem Eintrag ist es mir wichtig zu erwähnen, dass es sich hierbei nicht um eine ›exegetische Übung‹ handelt, mit der anschließend das Leben von Personen bewertet werden kann, sondern vielmehr um eine Auseinandersetzung mit biblischen Texten, die für viele Christen Grundlage ihrer Weltsicht sind, und die in jedem Fall, egal zu welchen Schlüssen man am Ende kommt, interpretiert werden.
Für mich, mein Leben, Handeln und meine Weltsicht ist die Bibel nicht die einzige Quelle, sie scheint mir aber für den Dialog mit Christen grundlegend, da viele Meinungen mit den Schriften des Alten und Neuen Testaments begründet werden.
Der Eintrag basiert wieder auf einem Kapitel aus dem eben erwähnten Buch von Walter Wink, enthält aber im Unterschied zu den bisherigen einen kleinen Exkurs.
Eingangs weist Walter Wink darauf hin, dass die Frage des Verhältnisses von Homosexualität und Christsein ein ähnliches Potential zur Spaltungen innerhalb der weltweiten Kirche hat, wie die Frage nach der biblischen Position zu Sklaverei vor 150 Jahren. Mit diesem Vergleich macht er deutlich, dass die Beschäftigung mit dieser Frage über das eigentliche Thema hinausgeht, und maßgeblich damit zusammenhängt auf welche Weise die Bibel verstanden wird, und wie sich aus ihr Anregungen für das Leben im Hier und Jetzt ableiten lassen.
Uneindeutige Stellen
Im ersten Abschnitt des Kapitels setzt er sich mit Bibelstellen auseinander, die ab und an als Grundlage für die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Homosexualität und Christsein herangezogen werden, die seiner Ansicht nach jedoch nicht eindeutig von Homosexualität sprechen.
Zu diesen Stellen zählen zunächst Genesis 19,1-29 und Richter 19-21. In diesen beiden Abschnitten ist jedoch nicht von Homosexualität die Rede, sondern von Massenvergewaltigungen. Diese beiden Texte sind für mich schwer zu lesen, da in ihnen eine mir sehr fremde Einstellung zum Leben deutlich wird, die sich vor Allem im Verhalten des jeweiligen Gastgebers und der männlichen Gäste zeigt. Es handelt sich um die patriarchale Weltsicht, der zu Folge Männer wertvoller sind als Frauen. Die männlichen Einwohner der jeweiligen Städte fordern die Gastgeber dazu auf ihnen die männlichen Gäste herauszugeben, so dass sie diese Vergewaltigen können. Dies geschieht nicht. Im ersten Fall geht es verhältnismäßig glimpflich ab, im zweiten Fall stirbt die Frau des Gastes in Folge der Vergewaltigung. In der Gewichtung der Stelle schließe ich mich hier eindeutig Wink an, der davon spricht, dass es sich um heterosexuelle Männer geht, die zwar die männlichen Gäste vergewaltigen wollen, diese Stellen jedoch nichts über Homosexualität aussagen.
Als weitere Referenz wird ab und an Deuteronomium 23,18 angeführt. Hier geht es jedoch ebenfalls nicht um Homosexualität, sondern um Tempelprostitution im Zusammenhang kanaanitischer Fruchtbarkeitsriten.
Zwei weitere Stellen aus dem Neuen Testament werden ebenfalls immer wieder angeführt, bei diesen ist laut Wink jedoch unklar von was die Rede ist. In 1.Korinther 6,9 und 1.Timotheus 1,10 könnte es sich um die Erwähnung von Homosexualität, Promiskuität, Pädophilie oder käuflichen Sex handeln. In der Lutherbibel oder der Einheitsübersetzung findet sich die Übersetzung „Knabenschänder“, was die Entscheidung in Richtung Pädophile nahelegt, andere Übersetzung entschieden sich nicht so eindeutig.
Wink betrachtet diese Stellen infolge der Unklarheit nicht weiter, und wendet sich Stellen zu, in denen klarer von Homosexualität gesprochen wird.
Stellen zu Homosexualität
Legen wir also die erwähnten Stellen bei Seite bleiben drei Verweise, die sich eindeutig auf homosexuelle Handlungen beziehen. Zwei davon finden sich im 3. Buch Mose (Levitikus) und die dritte Stelle stammt von Paulus und steht im Brief an die Römer.
Betrachten wir zunächst die ersten beiden Stellen. Diese stehen im Zusammenhang von Anweisungen für das Volk Israel, das sich auf das Leben in Kanaan vorbereiten soll. In der Überlieferung sind diese Stellen als Anweisungen von Mose gekennzeichnet, die er dem Volk auf dem Weg in das Land mitteilt. Die beiden Stellen finden sich in den Kapiteln 18 und 20. Sie stehen in unmittelbarer Nähe zu weiteren Anweisungen, die sich auf die Beziehung zu Gott und Menschen, und deren Sexualität beziehen.
»Kein Mann darf mit einem anderen Mann geschlechtlich verkehren; denn das verabscheue ich.« (Lev 18,22)
»Wenn ein Mann mit einem anderen Mann geschlechtlich verkehrt, haben sich beide auf abscheuliche Weise vergangen. Sie müssen getötet werden; ihr Blut findet keinen Rächer.« (Lev 20,13)
Diese beiden Stellen scheinen auf den ersten Blick eindeutig zu sein, an dieser Stelle endet Wink jedoch nicht, sondern betrachtet sie in ihrem Kontext – sowohl textlich als auch geschichtlich. Durch das isolieren einzelner Sätze (aus der Bibel) lassen sich in vielen Fällen einfache Antworten finden, es stellt sich jedoch die Frage ob diese einfachen Antworten der Komplexität des Lebens, sowohl heute als auch damals, gerecht wird, weshalb in jedem Fall eine Einordnung in den jeweiligen Kontext wichtig ist.
Kurze Betrachtung der zur Diskussion stehenden Kapitel
In diesen Kapiteln scheint es dem Schreiber darum zu gehen die Grundlage des Zusammenlebens für das Volk zu regeln. Es sollte sich klar vom Leben der Ägypter, aus deren Land sie ausgezogen waren, und der Kanaaniter, in deren Land sie unterwegs waren, unterscheiden. Es handelt sich hier, meiner Ansicht nach um Handlungsanweisungen die klare Adressaten hatten, das Volk Israel, und die in eine bestimmte Zeit hinein gesprochen wurden, sie bezogen sich auf die Zeit nach der „Landnahme“ des Volkes Israel.
Kapitel 18 behandelt alle möglichen sexuellen Verbindungen, vor Allem mit Verwandten, die ausgeschlossen werden. Dabei ist zu beachten, dass Polygamie als normal angenommen wird. Neben diesen unterschiedlichen sexuellen Verbindungen mit Verwandten, die vermieden werden sollten ist auch von Sex mit Tieren die Rede und vom Opfern eines Kindes für den Götzen Moloch. In die Aufzählung der sexuellen Verbindungen mit Verwandten, wird wie oben erwähnt auch das Verbot homosexueller Handlungen eingebunden. Alles, ausser der sexuelle Verkehr mit Tieren, ist ausschließlich aus Sicht des Mannes geschrieben, daher geht es hier zunächst auch nur um homosexuelle Handlungen unter Männern. Dies liegt an der patriarchalischen Weltsicht, die den Mann als das aktive Mitglied der Gesellschaft ansah, und der Frau dem Mann klar unterordnete und ihr die Kategorie ›Besitz‹ zuschrieb. Diese Tendenz ist an vielen Stellen des Kapitels spürbar. Vieles von dem was hier auf Mose zurückgeführt wird, halten weite Teile der Gesellschaft auch heute noch für einen angemessenen Rahmen sexueller Verbindungen, weshalb die Glaubwürdigkeit der Stelle evtl. nicht so stark in Frage gestellt wird. Der Aspekt des Verbots mit einer Frau zu schlafen, die ihre Tage hat (vgl. Lev 18,19), wirkt befremdlich, da wir heute nicht mehr in den Kategorien ›rein/unrein‹ denken und entsprechend handeln. Vers 29 macht deutlich, dass Geschlechtsverkehr während der Tage auf gleiche Weise zum Ausschluss aus der Volksgemeinschaft führt wie homosexuelle Handlungen. Auch wenn viele Verbindungen die das Kapitel anspricht auch heute noch breit geteilt werden, so kann an dieser Stelle dennoch festgestellt werden, dass das grundlegend patriarchale Verständnis – aus guten Gründen – nicht mehr geteilt wird. Ebenfalls wird einvernehmlicher Geschlechtsverkehr während der Menstruation nicht mehr kategorisch ausgeschlossen. Weshalb also am Ausschluss homosexueller Handlungen festhalten?
Kapitel 19 könnte im weitesten Sinne als Anweisungen für ein gerechtes und gutes Miteinander von Menschen und Tieren verstanden werden. Auf den ersten Blick fallen hier jedoch einige wenige Stelle auf, die heute so nicht mehr als ›wahr‹ und wichtig angesehen werden. Laut Vers 6 soll Fleisch nur am Tag der Schlachtung und am Tag danach gegessen werden. Derjenige, der am dritten Tag nach der Schlachtung davon ist, „hat sein Leben verwirkt und muss aus dem Volk ausgestossen werden“. Äußerst befremdlich und schlicht weltfremd erscheinen folgende Anweisungen: „kreuzt nicht Tiere verschiedene Arten miteinander, sät nicht auf dem selben Acker zwei verschiedene Sorten Saatgut, tragt auch keine Kleidung, die aus zwei verschiedenen Garnen gewebt ist“ (vgl. Lev 19,19). Dieses Kapitel betrachte ich, da es sich zwischen den beiden erwähnten Stellen befindet, und sich daher in den Kontext einordnet und uns dabei hilft die entsprechenden Stellen zu verstehen.
Kapitel 20 wiederholt die Anweisungen der letzten Kapitel nochmals, stellt sie in eine etwas andere Reihenfolge, macht jedoch klar wie Gott sich das Leben des Volkes Israel in Kanaan vorzustellen scheint. Das Kapitel findet nochmals drastische Worte – nicht Beachtung führt zum Tod – beginnt mit dem Verhältnis zu Göttern und Geistern, geht dann auf die Familie ein, spricht über das Verhältnis zu den Eltern und über die Ehe, behandelt danach sexuelle Verbindungen zu Verwandten, Männern untereinander, sexuelle Handlungen mit Tieren und kehrt dann wieder zu Eltern, der Ehe und Verwandten zurück. Danach spricht der Autor davon, dass sich das Volk nicht die „Sitten“ der anderen Völker zu eigen machen soll. Abschließend folgen nochmals kultische Hinweise zu reinen und unreinen Tieren und Geistern.
Auch dieses Kapitel richtet sich an eine bestimmte Menschengruppe zu einer bestimmten Zeit. Unsere heutige Lebenssituation und unser Verständnis der Wirklichkeit unterscheiden sich wie bei den beiden vorangehenden Kapiteln. Einige Aspekte werden in der weltweiten Kirche und Gesellschaft noch als stimmig empfunden, anderes gilt – mit gutem Recht – als überholt. Und auch hier stellt sich wieder die Frage, weshalb eine bestimmte Aussage als bindend und allgemeingültig angesehen wird, wenn dies nicht für alle Aussagen des Kapitels oder des gesamten Buches gilt?
Zurück zu den Betrachtungen Winks:
Wink macht deutlich, was in diesem kurzen Exkurs ebenfalls sichtbar wurde, dass den Abschnitten eine Weltsicht zu Grunde liegt, die sich recht stark davon unterscheidet wie wir uns heute das Leben erklären. Der männliche Same wurde als alleiniger Träger des menschlichen Lebens verstanden. Ohne den ganzen Bereich von Ei und Eisprung in Betracht zu ziehen, wurde davon ausgegangen, dass Frauen lediglich die Inkubatorinnen des menschlichen Lebens waren. Diesem Verständnis entsprechend wurde die „Verschwendung“ des Samens mit Mord gleichgesetzt. Coitus interruptus, Selbstbefriedigung und homosexuelle Handlungen waren alle gleich „schlecht“, da es sich hierbei nicht um sexuelle Handlungen um der Fortpflanzung Willen handelte.
Wink bringt Verständnis für diese Zeit und Art der Weltsicht auf, spricht jedoch davon, dass in unserer Zeit ein ganz anderes Verständnis von lustvollen sexuellen Handlungen, Fortpflanzung, Entstehung und Entwicklung menschlichen Lebens besteht. Augenzwinkernd fügt er noch hinzu, dass es in Zeiten knapper werdender Ressourcen ökologisch verantwortlich sei sich nicht weiter Fortzupflanzen.
Nimmt man die Kapitel als Ganze jedoch ernst, sind die beiden Aussagen nach Ansicht Winks eindeutig – homosexuelle Handlungen (genauso wie vieles andere, was hier angesprochen wird) sind nicht erwünscht, und führen zum Ausschluss aus dem Volk, ja zum Tod. Mit Bedauern stellt er fest, dass es auch heute noch Christen gibt, die dieser Auffassung sind.
Paulus im Brief an die Römer
Seiner Ansicht nach ist es jedoch unerlässlich auch im Neuen Testament einen Widerhall dieser Position zu finden, soll sie bis heute als Anweisung Gottes zu gelingendem Leben verstanden werden. Daher wendet er sich daraufhin der angesprochenen Stelle im Brief an die Römer zu.
»Darum lieferte er sie schändlichen Leidenschaften aus. Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Geschlechtsverkehr mit dem widernatürlichen. Ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit Frauen auf und entbrannten in Begierde zueinander. Männer treiben es schamlos mit Männern. So empfangen sie am eigenen Leib den gebührenden Lohn für die Verirrung ihres Denkens.« (Römer 1,26-27)
Paulus redet hier von Menschen, die eigentlich heterosexuell sind, und die dann ihren „normalen Verkehr“ verlassen, und sich diesbezüglich unnatürlich verhalten. Wink geht davon aus, dass Paulus die Unterscheidung ›homosexueller Handlung‹ und ›homosexueller Orientierung‹ nicht kannte, und dass er davon ausging, dass alle Menschen heterosexuell sind. Das Verständnis der sexuellen Orientierung auf die ein Mensch keinen Einfluss hat, und der sexuellen Handlung für die man sich entscheiden kann, war seiner Zeit fern. Sollten alle Menschen heterosexuell sein, dann könnte man tatsächlich davon sprechen, dass sie ihren normalen Verkehr verlassen, wenn sie homosexuell handelten. Auf der anderen Seite ist es jedoch auch möglich davon auszugehen, dass eine homosexuelle Person ihren normalen Verkehr verlässt und heterosexuell handelt. Einige Christen scheinen sich das zu wünschen, Wink jedoch sieht dieses Verleugnen der eigenen sexuellen Orientierung, für die man nichts kann, in dieser Stelle thematisiert.
»There are people who are genuinely homosexual by nature (the exact cause no one really knows, and it is irrelevant). For such a person it would be acting contrary to nature to have sexual relations with a person of the opposite sex.« (Wink, 44f.)
Für Wink thematisiert Paulus hier vor Allem die Sexzentriertheit der betreffenden Personen. In den Beschreibungen ist nicht die Rede von gegenseitigen Beziehungen von Personen, die zueinander halten, es scheint vielmehr um etwas zu gehen, dass in diesem Kontext mit „Ausschweifung“ bezeichnet wird. Im weiteren Verlauf des Abschnitts kommt Wink schließlich auf die Natur zu sprechen, da dies scheinbar auch der Argumentationsstrang von Paulus ist. Es gäbe in der Natur eine große Vielzahl von Arten die homosexuelles Verhalten aufwiesen, gerade dann wenn ihre Anzahl stark gestiegen ist, auf diese Weise würde ihre Art erhalten. Für Wink ist das jedoch kein stichhaltiger Argumentationsverlauf, er führt ihn lediglich zur Verdeutlichung der Analogie zu Paulus an.
Zwischenfazit von Wink
Nähme man die drei erwähnten Stellen für sich, und ließe die Betrachtung des Kontextes und des unterschiedlichen Umgangs mit Anweisungen in deren unmittelbarer Nähe ausser acht, müsste man festhalten, dass die Bibel homosexuellen Handlungen ein negatives Zeugnis ausstellt.
Gewichtung damals und heute
Dieses Vorgehen hilft jedoch weder im Umgang mit Homosexuellen noch beim Verstehen und Auslegen der Bibel. In der Bibel finden sich viele weitere Anweisungen, die heute nicht mehr als bindend angesehen werden, aus diesem Grund muss nach Ansicht von Wink weiter gesucht werden, um zu einer verantwortbaren Position zu gelangen. Im weiteren Verlauf führt er 20 Sitten hinsichtlich Sexualität an, die in der Bibel thematisiert werden. Diese teilt er schließlich in Sitten ein, die er heute noch als bindend ansieht, oder eben nicht. Seine Aufstellung sieht folgendermaßen aus:
Die meisten Leserinnen und Leser stimmen der Bibel in Ihrer Ablehnung folgendem gegenüber zu:
- Inzest
- Vergewaltigung
- Ehebruch
- Sex mit Tieren
In den meisten anderen Sitten bezüglich Sexualität stimmen wir jedoch nicht mit der Bibel überein. Die Bibel verurteilt folgendes sexuelles Verhalten oder empfiehlt es nicht, wir jedoch erlauben es oder finden es gut:
- Sex während der Menstruation
- zölibatäres Leben
- Exogamie (Möglichkeit Partner ausserhalb der eigenen sozialen Gruppe zu finden)
- Sexualorgane zu benennen
- Nacktheit
- Masturbation
- Verhütung
Die Bibel bezeichnete männliche Samen und die Menstruationsblut als unrein, was die meisten von uns nicht tun würden.
Auf der anderen Seite erlaubte die Bibel einige Sitten, die wir heute nicht für gut befinden:
- Prostitution
- Polygamie
- Stellvertreter Ehe
- Sex mit Sklaven/Sklavinnen
- Konkubinat
- Frauen wie einen Besitz behandeln
- sehr frühe Heirat (für Mädchen zwischen 11-13)
Bei allen erwähnten Sitten stimmt Wink der Bibel in vier Fällen zu, und versteht 16 anders. Diese Zahl variiert bei der Einen oder dem Anderen hier wahrscheinlich. Dennoch wird meiner Ansicht nach deutlich, dass wir im Laufe der Geschichte das Verhältnis zur Sexualität, und zum Leben an sich, anders verstehen als dies zu Zeiten der Bibel üblich war, und daher auch andere Gewichtungen vornehmen.
Wink fährt fort, dass wir alle Gesetze halten müssten, wenn wir, wie Paulus in Galater 5,3 ausführt, uns unter das Gesetz stellen wollen, oder aber mit Christus in das neue Leben unter der Hilfe des Heiligen Geistes eintreten, und für unsere Zeit neu lernen wie gelingendes Leben aussehen kann.
»Christians reserve the right to pick and choose which sexual mores the will observe, though they seldom admit to doing just that. And this is as true of evangelicals and fundamentalists as it is of liberals and mainliners.« (Wink, 51)
Entscheide selbst
Wink führt diesen Gedanken weiter und spricht davon, dass die Bibel keine Sexualethik beinhaltet, sondern sich in ihr verschiedene Sitten bezüglich Sexualität finden. Einige von diesen Sitten haben sich im Laufe der biblischen Geschichte verändert. Bei Sitten handelt es sich um Verhaltensweisen die von einer bestimmten Gruppe als bindend angesehen werden. Einige der Verhaltensweisen die die Bibel verbietet erlauben wir, und andere halten wir nicht für gut, die in der Bibel positiv dargestellt werden. In der Bibel findet sich nach Ansicht von Wink eine Liebes Ethik, die das gesamte Leben umfasst. Diese Liebes Ethik gilt auch dann wenn sich Sitten hinsichtlich Sexualität verändern. Ein Verhalten im Einklang mit dieser Liebes Ethik beutet nicht aus, herrscht über niemanden, übernimmt Verantwortung, achtet auf Gegenseitigkeit, kümmert sich und ist liebevoll.
Die Überschrift ›entscheide selbst‹, die ich von Wink übernommen habe, klingt etwas irreführend, da sie einem ›everything goes‹ nahekommt, und sich so anfühlen könnte als würde man auf der Suche nach gelingendem Leben alleine gelassen. Wink spricht jedoch auch davon, dass gemeinsam und im Gespräch mit der Tradition nach Wegen des gelingenden Lebens gesucht wird. Für ihn ist die Liebes Ethik das entscheidende Kriterium.
»We can challenge both gays and straights to question their behaviors in the light of love and the requirements of fidelity, honesty, responsibility, and genuine concern for the best of the other and of society as a whole.
[…]
For those of same-sex orientation, as for heterosexuals, being moral means rejecting sexual mores that violate their own integrity and that of others, and attempting to discover what it would mean to live the love ethic of Jesus.« (Wink, 53)
Wenn wir, wie in den vorangegangen Kapiteln, Homosexualität als Gabe Gottes verstehen, dann geht es bei der Frage nach dem Verhältnis von Homosexualität und Christsein nicht mehr um eine Frage der Moral. Es eröffnet sich dann ein Raum jenseits von Schärfe und Brutalität, wovon das „unchristliche Verhalten“ der Christen gegenüber Homosexuellen geprägt war. Für Wink sollte Ethik nicht mehr auf schlechter Wissenschaft basieren, Theologie sollte in ihre Suche sowohl die Bibel, die Tradition, Psychologie, Genetik, Anthropologie und Biologie einbeziehen, und auf diese Weise eine Liebes Ethik des gelingenden Lebens erarbeiten.
Wink geht es nicht darum die kritischen Stellen aus der Bibel zu vertuschen, sondern vielmehr Wege zu finden Herrschaftssysteme in der Bibel aufzudecken, sie zu demaskieren und neue Wege zu finden, wie Gott sich uns trotz allem offenbart und gelingendes Leben stattfinden kann.
»With the interpretive grid provided by a critique of domination, we are able to filter out the sexism, patriarchalism, violence, and homophobia that are very much a part of the Bible, thus liberating it to reveal to us in fresh ways the inbreaking, in our time, of God’s domination-free order.« (Wink, 55)
Eine Einladung zur Toleranz
Aus seiner Sicht laufen gerade die Debatten, in denen die Bibel in unterschiedliche Richtungen ausgelegt werden kann, mit der meisten Schärfe. Diese Diskussionen verletzen sehr viele Menschen, was Wink betrübt. Daher lädt er an dieser Stelle zur Toleranz anderen Positionen gegenüber ein.
Auch wenn er von der Richtigkeit seiner Überlegungen dieses Aufsatzes überzeugt ist, weiß er, dass sich darin Schwachstellen finden lassen. Anstatt aufeinander loszugehen, sollten wir unsere Begrenzungen zugeben und unser Vorgehen offenlegen. Auch wenn wir als Kirche die Frage nach dem Verhältnis von Homosexualität und Christsein nicht abschließend klären können – wie so viele andere Fragen auch – so sind wir doch klar dazu aufgerufen liebevoll miteinander umzugehen. Egal welche Position wir aus der Bibel in dieser Frage erarbeiten, sind wir dazu aufgefordert unsere Mitmenschen, die queeren und die straighten, zu lieben, uns umeinander zu kümmern und uns mit den Kämpfen der Einzelnen zu identifizieren.
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Alle Artikel in dieser Serie:
- Homosexualität und Christsein (1)
- Homosexualität und Christsein (2)
- Homosexualität und Christsein (3)
- Homosexualität und Christsein (4)
- Homosexualität und Christsein (5)
- Homosexualität und Christsein (6)
- Homosexualität und Christsein (7)
- Homosexualität und Christsein (8)
- Homosexualität und Christsein (9)
- Homosexualität und Christsein (10)
- Homosexualität und Christsein (11)
- Homosexualität und Christsein (12)