Homosexualität und Christsein (6)

Im fünften Kapitel des Buches ›Homosexuality and Christian Faith‹ geht Ken Sehested ebenfalls der Frage nach was in der Bibel zu Homosexualität zu finden ist. Auch wenn bereits im Kapitel davor auf dieselben Bibelstellen eingegangen worden ist, möchte ich die Gedanken des Kapitels ›Biblical Fidelity and Sexual Orientation: Why the First Matters, Why the Second Doesn’t‹ aufgreifen, da Sehested andere Schwerpunkte setzt.

Zu Beginn seines Kapitels schreibt Sehested von der Sprengkraft der Frage nach sexueller Orientierung. Seiner Ansicht nach handelt es sich hierbei um eine Debatte, die Meinungsverschiedenheiten sehr stark betont und viele Beziehungen und Gruppen spaltet.

Angesichts des Spaltungspotentials des Themas und den offenen Drohungen, die mit einer Positionierung einhergehen, schreibt er in dem Abschnitt ›Why take the risk‹ (59f) über seine Beweggründe. In diesem Zusammenhang nennt er zuerst den Einsatz für Gerechtigkeit. Bei der Frage nach sexueller Orientierung und dem Umgang damit steht seiner Ansicht nach Gerechtigkeit auf dem Spiel. Sein zweiter Beweggrund ist Versöhnung. Nachdem er seinen lesbischen und schwulen Mitmenschen zugehört, ihre Geschichten miterlebt hatte, wurde ihm klar, dass es für ihn nicht mehr möglich ist zu schweigen. Er möchte zu Versöhnung beitragen, und ist dazu bereit gewaltfrei in den Konflikt einzusteigen. Als Drittes nennt er seinen Wunsch die Bibel ernst zu nehmen. Seiner Ansicht nach werden die biblischen Begründungen für Homophobie von aussen an die Bibel herangetragen. Treue zur Schrift ist für ihn ein wichtiger Wert, weshalb er sich im weiteren Verlauf des Kapitels direkt mit den Aussagen der Bibel beschäftigt.

Diesen Abschnitt überschreibt er mit What the Bible Does, and Does Not, Say (60ff), und führt darin sieben Stellen auf, die in der Debatte um sexuelle Orientierung meistens angeführt werden. Die Beschäftigung mit den Stellen führt ihn zur Erkenntnis, dass es in ihnen um Vergewaltigung, Machtmissbrauch, Ungerechtigkeit, rituelle Reinheit, Ausbeutung und Götzendienst geht. Diese Begriffe lassen sich in zwei Richtungen deuten. In den erwähnten Stellen geht es demnach zunächst um Machtausübung und Unterdrückung und andererseits um Fragen der Gottesbeziehung. Dazu aber nun etwas ausführlicher:

Vergewaltigung, Machtmissbrauch und Ungerechtigkeit

Wie bereits im letzten Blogeintrag ausgeführt, spricht die am häufigsten angeführte Bibelstelle – Genesis 19 – von Vergewaltigung und nicht von Homosexualität.

Sehested führt drei Aspekte zu dieser Stelle aus die er für besonders beachtenswert hält. Hierbei nennt er als erstes, dass nicht die angedrohte Vergewaltigung der Gäste Lots den Ausschlag zur Verurteilung der Stadt gegeben hatte, sondern dass dies bereits davor angedacht war. In Genesis 18 wird folgendes überliefert:

»Über die Leute von Sodom und Gomorra sind schwere Klagen zu mir gedrungen. Ihre Schuld schreit zum Himmel. Deshalb will ich jetzt hingehen und mit eigenen Augen sehen, ob das wahr ist, was ich gehört habe. Ich will wissen, ob sie es wirklich so schlimm treiben.« (Gen 18,20-21)

Die Besucher wollten sich also ein Bild von der Lage in diesen Städten verschaffen, und gleichzeitig Lot und seiner Familie die Möglichkeit geben sie zu verlassen.

Als zweites betrachtet er den Vorfall an sich.

»Second, the context does make clear that the men of Sodom have sexual intentions with regard to the guests in Lot’s house. But the intention is not so much homosexual activity as it is rape. And the principle impulse in rape whether homosexual or heterosexual-is not about sex. It is about power. Male rape of other males was a common form of humiliation and domination committed against defeated armies in the ancient world, as it is in modern prisons today.« (60f)

Wichtig ist hier zu notieren, dass es bei Vergewaltigung nicht um Sex sondern um Machausübung geht. Diese Machtausübung macht sich sexuelle Handlungen zu nutzen, darf aber keinesfalls mit Sex gleichgesetzt werden. Vergewaltigung ist ein Akt der Demütigung, der in kriegerischen Handlungen (nicht nur dieser Zeit) dem Beweis der Überlegenheit diente.

Neben diese beiden Beobachtungen stellt er die Annahme, dass seiner Ansicht nach eine Erwähnung von Homosexualität als Sünde der Städte auch in den anderen Büchern der Bibel zu finden sein müsste, was jedoch nicht der Fall ist. Er geht einige Stellen bei Ezekiel (16), Amos (4), Jesaja (3+4), Zaphania (1+2) durch. Diese Stellen haben alle eine Gerichtsandrohung gemeinsam. Dabei geht es jedoch meist um die Unersättlichkeit des Volkes, das sich durch Ungerechtigkeit bereichert, Arme werden ausgebeutet und es wird damit angegeben, dass rücksichtslos gelebt wird. Beispielhaft soll an dieser Stelle aus Ezekiel zitiert werden:

»So gewiss ich, der Herr, lebe: Deine Schwester Sodom mit ihren Töchtern hat sich nicht so schändlich benommen wie du und deine Töchter! Sie war eingebildet und lebte mit ihren Töchtern sorglos und im Überfluss; um Arme und Unterdrückte kümmerte sie sich nicht. Sie war überheblich und beging abscheuliche Verbrechen. Als ich das sah, schaffte ich sie weg.« (Ezekiel 16,48-50)

Der einzige Verweis auf Sodom und Gomorrah findet sich im Evangelium nach Matthäus. An dieser Stelle spricht Jesus mit seinen Jüngern:

»Wenn man euch aber in einem Haus oder in einer Stadt nicht aufnimmt und eure Worte nicht hören will, dann geht weg und schüttelt den Staub von euren Füßen. … Dem Gebiet von Sodom und Gomorra wird es am Tag des Gerichts nicht so schlimm ergehen wie dieser Stadt.« (Mat 10,14-15)

Seine Beobachtungen fasst Sehested folgendermaßen zusammen:

»In all these references to the sin of Sodom and Gomorrah, the issue is wantonness. It is about domination of others, about malignant power, about God’s intended shalom-harmony, right-relatedness. In each, God-relatedness and just relations among God’s creatures are intimately linked. Spiritual realities and socioeconomic realities are mirror images.« (62)

Rituelle Reinheit

Die beiden anderen Stellen des Alten Testaments, die als Begründung der Ablehnung von Homosexualität herangezogen werden finden sich im Buch Levitikus. Diese Stellen behandeln die rituelle Reinheit des Volkes Israel. In ihnen werden homosexuelle Handlungen – neben vielem anderen – als Gräuel dargestellt. Sehested betont, dass Gräuel kein moralischer oder ethischer Begriff ist, sondern in direktem Zusammenhang mit ritueller Reinheit verwendet wird. Möchte man diese Abschnitte als Hinweise für moralische und ethische Entscheidungen heranziehen, sollte beachtet werden, dass man diese Kategorie an die Stellen heranträgt und sie darüber keine explizite Aussage treffen.

»Both judge such activity (as in Gen. 19) as an „abomination.“ Note here that the word abomination is not a moral or ethical term. Rather, it is always used to indicate a serious breach of ritual purity law. Other „abominations“ before God include eating pork, misusing incense, and having intercourse during menstruation. These and many other prohibitions are connected to questions of what is clean and what is unclean in the eyes of God.

[…]

The dilemma in making this Levitical text normative for faith is what we do with other prohibitions in this same material. Wearing garments made of two different materials is also prohibited, as are sowing a field with two kinds of seed, cutting one’s hair where it meets the temple of a human face-among a host of other commands, commands that the church has never declared normative.« (62)

Ausbeutung und Götzendienst

Die beiden Stellen des Neuen Testaments, die in der Debatte um sexuelle Orientierung herangezogen werden finden sich bei Paulus.

Bei der Beschäftigung mit 1.Kor 6,9-10 und 1.Tim 1,9-10 wird deutlich, dass die Begriffe dieser Listen der „Vergehen“ eindeutig in Richtung sexueller und wirtschaftlicher Ausbeutung von Kindern, hier vor allem Jungs, zu verstehen sind. Es handelt sich also auch hier wieder um Begriffe der Machtausübung und Ungerechtigkeit, und nicht um Aussagen bezüglich sexueller Orientierung und in diesem Zusammenhang einvernehmlichen sexuellen Handlungen.

Römer 1,26-27 steht im Zusammenhang mit Götzendienst. Paulus bezieht sich an dieser Stellen auf Tempelprostition. Es kann daher am Beispiel dieser Stelle eher über kanaanitische Fruchtbarkeitsriten als über Homosexualität gesprochen werden.

Ja, aber …

Wer alle Deutungsrichtungen ablehnt, die hier aufgeführt wurden, der muss sich dennoch fragen lassen wie er es mit all den anderen Verboten in den angesprochenen Stellen hält. Über diese wird großzügig hinweggesehen und lediglich die (unwahrscheinliche) Deutung auf homosexuelle Handlungen wird als bindend angenommen und auf sexuelle Orientierung generalisiert. Die Art und Weise wie dies geschieht fällt für Sehested in den Bereich der Verurteilung, was ihn zu folgendem Gedanken führt:

»The one time Jesus explicitly names the kinds of folk who are headed for eternal damnation, he lists only those who did not provide food for the hungry or drink for the thirsty, did not welcome strangers or provide clothing to the naked, did not visit prisoners.« (64)

Um den Kontext zu dieser Aussage herzustellen zitiere ich die entsprechende Stelle aus dem Evangelium nach Matthäus:

» Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht.

Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?

Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.

Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.« (Mat 25,41-46)

Die weltweite Christenheit

Die Bedeutung des Einsatzes für Gerechtigkeit und die Wertschätzung des Lebens ist grundlegend für die Nachfolge.

In welchem Verhältnis steht die weltweite Christenheit zu den Reinheitsvorschriften des Alten Testaments, ist die Frage die für Sehested Lösungsmöglichkeiten für die Debatte um sexuelle Orientierung bietet. Hierzu finden sich im Umgang der ersten Christen mit der Öffnung der Nachfolge für alle Menschen wichtige Hinweise. Als Schlüsseltext verwendet Sehested die Kapitel 10-15 der Apostelgeschichte.

»The story in Acts 10-15 is the narrative describing the struggle of the early Christian community as it moved from a parochial to a universal mission. The key characters of chapter 10 are Cornelius, a God-fearing Gentile, and Peter. First, Cornelius has a vision from God telling him to locate Peter. Peter likewise has a vision, of animals descending from heaven on a sheet. He is instructed to eat them; but they are unclean and compliance would be an „abomination“ according to the Bible. His refusal is met with this rebuke: „What God has made clean, you must not call common or profane.“« (64)

Die Aufforderung an Petrus zu essen, was gemäß der Reinheitsvorschriften unrein war, bereitet ihn für seine Begegnung mit Menschen vor, die nicht zum Volk Israel gehören. Jesus hatte auch sie zur Nachfolge eingeladen, und damit die Gemeinschaft mit Menschen die nicht zum Volk Israel gehörten legitimiert. In der Folge dieser Vision öffnen sich die ersten Christen zaghaft gegenüber Nachfolgerinnen und Nachfolgern die nicht aus dem Volk Israel stammten. Dennoch stellten ihn die zu Hause gebliebenen zur Rede als er wieder in Jerusalem war.

»Finally, Peter stood up and said, in effect: „I know what the Bible says. What I’m telling you is that I’ve seen indisputable evidence of the work of the Holy Spirit in the lives of these Gentile-perverts. God has cleansed their hearts by faith and has made no distinction between them and us. We don’t exactly have a perfect track record when it comes to being faithful to the Bible ourselves.“

[…]

Peter was onto something important. His was a precedent setting theological argument: clear evidence of the presence of the Holy Spirit-evidence attested to in the Bible-overrules any particular regulation. The regulations, in other words, are in service to the Spirit, not the other way around. I call it the „Jerusalem Protocol.“

The idea is ancient and deeply biblical: „The only thing that counts is faith working through love,“ according to Paul (Gal. 5:6). Fidelity to the Bible, to paraphrase Jesus, can be summarized in two intertwined statements: „You shall love the Lord your God with all your heart, and with all your soul, and with all your mind“ and „your neighbor as yourself“ (Matt. 22:37-40).« (65-66)

Gemäß dieser Aussagen schließt Sehested, dass die überlieferten Vorschriften im Dienste des Heiligen Geistes stehen, und nicht andersherum. ›Über allem steht die Liebe‹, wie Paulus an die Korinther schrieb. Im Brief an die Galater geht Paulus ebenfalls der Frage nach, welche Voraussetzungen zu erfüllen sind um vor Gott als gerecht zu gelten: »Es zählt nur der vertrauende Glaube, der sich in tätiger Liebe auswirkt.« (Galater 5,6) Diese Aussagen lassen sich schließlich auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot zurückführen, auf die Jesus so geantwortet hatte:

»‘Liebe den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, mit ganzem Willen und mit deinem ganzen Verstand!’ Dies ist das größte und wichtigste Gebot. Aber gleich wichtig ist ein zweites: ‘Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!’« (Matthäus 22,37ff)

Auf die Frage welche Rolle die sexuelle Orientierung hinsichtlich des Christseins spielt antwortet Sehested im letzten Abschnitt seines Kapitels wie folgt:

»Is homosexuality compatible with Christian faith? Is heterosexuality compatible with Christian faith? Uncircumcised or circumcised? None of these questions, I would suggest, is relevant.« (66)

Alle Artikel in dieser Serie:

  1. Homosexualität und Christsein (1)
  2. Homosexualität und Christsein (2)
  3. Homosexualität und Christsein (3)
  4. Homosexualität und Christsein (4)
  5. Homosexualität und Christsein (5)
  6. Homosexualität und Christsein (6)
  7. Homosexualität und Christsein (7)
  8. Homosexualität und Christsein (8)
  9. Homosexualität und Christsein (9)
  10. Homosexualität und Christsein (10)
  11. Homosexualität und Christsein (11)
  12. Homosexualität und Christsein (12)

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