„Habe ich Angst? Ja, aber nicht um mich“

»Wir befinden uns mitten in einer massiven Normverschiebung innerhalb unserer Demokratie, die nicht mehr dieselbe sein wird, wenn wir es geschehen lassen, dass Antisemitismus, Rassismus und Frauenhass immer weiter Raum gewinnen, wenn die digitale Meute angeführt von ihren intellektuellen Leithammeln Menschen zu Freiwild erklären kann, Treibjagden erst auf Twitter und Facebook und dann auf unseren Straßen angezettelt werden und den virtuellen Shitstorms reale Zerstörung von Lebenswirklichkeiten und Biographien folgt. Erst die Sprache, dann die Tat. Erst das Internet, dann die Straße. Erst der fiktive, dann der tatsächliche Mord. Das ist nicht Theorie. Das ist Realität in Deutschland am Ende der 2010er Jahre.

Jetzt gehen wir in die 2020er Jahre. Mit Feuerwerk und guten Vorsätzen. Der Blick 100 Jahre zurück sollte auch dazu gehören und ist mehr als eine Mahnung. Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne, schrieb der Sozialdemokrat Friedrich Kellner während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in sein Tagebuch. Heute erneut zuschauen, wie Menschen in unserem Land systematisch ausgegrenzt, angegriffen, innerlich und äußerlich verletzt werden? Das geht nicht. Empörung darf sich nicht in Ritualen erschöpfen und auf Betroffenheitsrhetorik im Salongespräch und in Medienstatements beschränken.

Wenn wir immer von der wehrhaften Demokratie reden, müssen wir – Bürger und demokratischer Staat – es endlich tun.«

Igor Levit, „Habe ich Angst? Ja, aber nicht um mich“

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